Donnerstag, 17. Dezember 2020

Sag mir, warum die Menschen
so sind, wie sie sind.
Warum tun sie einander
das alles an?
Warum all das Hässliche,
außen und innen?
Warum all die Qual,
all die Gier, all den Neid,
all die Gleichgültigkeit?
Warum sind sie so
zueinander?
Ein jeder will glücklich sein,
heißt es. Warum
also stürzen sie
einander ins Unglück?
Nehmen zumindest
fremdes Unglück in Kauf
und lassen das eigene
fast immer zu?
Warum sind sie so?
Sag’s mir doch bitte,
wenn du es weißt.

Freitag, 11. Dezember 2020

Sonntag, 29. November 2020

Barocker Abendhimmel

Am Horizont erlischt
das große Kohlenbecken,
das man die Sonne nennt.

Ich sehe, wie es zischt,
und höre, jetzt ist Nacht.

Ein jeder geht zur Ruh.
Und bis zum Großen Wecken
da werden alle frieren
in dieser dunklen Pracht.

Sonntag, 15. November 2020

Kenotaph

Wenn ich gestorben sein werde,
wird es hoffentlich heißen:
Das hatte er nicht verdient.
Sterben müssen wir alle, aber wir
hätten ihn nicht so leben lassen dürfen,
nicht so fern von uns allen.
Wir hätten auf ihn hören sollen.
Wir hätten ihn ernst nehmen sollen
in seiner Kritik an uns
und unseren Lebensweisen.
Er wollte andere Verhältnisse,
wollte Freiheit und Würde für jeden.
Das hatte er nicht verdient,
dass wir ihn ignorierten.
Den Spott und die Erfolglosigkeit
hielt er aus, aber er litt daran,
dass wir ihm nicht zuhörten,
dass wir ihn nicht verstanden
und gar nicht verstehen wollten.
Hätten wir ihm zugehört, hätten wir
vieles besser verstehen können,
vieles anders machen wollen
und so vieles anders gemacht.
Das hatte er nicht verdient.
Aber es ist nicht zu spät.
Jetzt endlich, da er tot ist,
wollen wir auf ihn hören,
wollen wir besser miteinander leben,
gemäß dem, was er sagte,
als er noch lebte. Er
hat Vorschläge gemacht. Wir
werden sie annehmen. So
wird es hoffentlich heißen,
wenn ich gestorben sein werde.
Aber wahrscheinlich eher nicht.

Montag, 26. Oktober 2020

Die Einheimischen hatten mich im Verdacht,
einer der Ihren zu sein. Ich meinerseits
blieb heimlich ein Fremder und freute mich
unheimlich über die ganz falsche Spur.

Samstag, 24. Oktober 2020

Mein Gedicht verspricht nicht
mehr, als es halten kann.
Das ist mir zu wenig.
Ich fange von vorne an.

Freitag, 2. Oktober 2020

Mir wissen die Leute zu viel.
Wenigstens reden sie so,
als ob sie was wüssten. Was aber
wissen sie wirklich? Und was
können sie überhaupt wissen?
Zu viel wird gewusst, meine ich,
was keiner zu wissen braucht.
Muss man denn, soll man, darf man
alles das wissen? Ich weiß nur:
Was gewusst zu werden wert wäre,
bleibt ohnehin ein Geheimnis.

Donnerstag, 24. September 2020

Knast

Aufkündigend den Mitgefangenen
die Gefangenschaft, nicht das Miteinander,
wandte er sich dem Ausgang zu, während
andere einander die Mauern
und Gitterstäbe schönredeten.
Findet euch ab, sagten sie, mit eurer Haft,
es gibt nichts anderes. Er aber war
in Gedanken immer schon draußen.

Europa, Epigramm

Keineswegs nämlich ist,
wie manche glauben wollen,
Grausamkeit das größte Übel.
Vielmehr ist das größte Übel
das Wegschauen. Zu sehen
und doch nicht zu sehen, zu hören
und doch nicht zu hören. Dafür
kommt man in die Hölle,
wie sie anderen schon bereitet wurde
auf Erden durch Wegschauen.

Samstag, 11. Juli 2020

Karneval

Nächtens Kristalle,
will sagen: Krawalle,
will sagen: es donnert,
es splittert, es birst.

Aus den Kanälen
schwappt Blut in die Gassen,
längst glätten die Gondeln
die Wogen nicht mehr.

Es brennt, niemand löscht,
eine Stadt löscht sich aus,
löscht ihr gläsernes Herz,
bricht ihr Licht, löscht nicht.

Ruinen dampfen
bis in den Tag hinein,
Ein bleierner Nebel
tanzt über der Stadt.

Freitag, 26. Juni 2020

Pax mecum

Ich gehöre nicht auf ein Schlachtfeld,
ich gehöre nicht in einen Schützengraben,
ich gehöre nicht in einen Hinterhalt.
Ich gehöre zum Frieden,
dem heftig umkämpften.
Mir gehört, was Kriege zerstören.
Ich habe nichts verloren
in einer Kommandozentrale.
Mir gehört kein Schlachtfeld,
mir gehört kein Schützengraben,
mir gehört kein Hinterhalt.
Im Krieg wäre ich verloren.
Mir gehört der Friede.

Montag, 15. Juni 2020

Ich muss sie verlegt haben,
meine Dornenkrone,
auch den Lorbeerkranz
finde ich nicht. Wie soll ich
so bloß unter die Leute?

Freitag, 12. Juni 2020

Rückblick, Ausblick

Schwerlich hätt' ich mein Leben
damit zubringen mögen,
einer von euch zu werden.

Lieber verschwendete ich
mich an die Einsamkeit, blieb
so ich selbst, also anders.

Wir werden schon, ihr und ich,
zusammenfinden, dereinst,
vor dem Angesicht Gottes.

Montag, 1. Juni 2020

Betrachtung

Mein Schöner, ich sah dich, ohne dass du mich sahst:
Am Garten meiner Nachbarn gingst du vorüber 

und brachst eine Blüte aus ihrem Rosenstrauch.
Geschenkt hätt ich dir gern alle Rosen der Welt.
Aber Dieben hackt man die Hand ab, Habibi.

Montag, 2. März 2020

Umstellung

Wie anders als zu Hause
das Licht auf Venedig fällt.
Venedig als zu Hause.
Wie anders. Das Licht fällt.

Samstag, 8. Februar 2020

C'era una volta in Venezia

Das kleine, himmelblaue Nilpferd
aus Muranoglas, dort im Schaufenster,
wird mir in Erinnerung bleiben.
Unsterblich macht es mein Gedicht.

Samstag, 1. Februar 2020

Venedig (2)

Andere, andere, andere
laufen herum und zertrampeln
lachend und kreischend und glotzend
mir meine Stadt, meinen Traum, der doch
ihnen nicht gilt, die doch ihnen
alles verbirgt, was sie mir
zuflüstert, heimlich, von haltloser
Schönheit, von wehrlosem Abschied,
ewig ins Blaue gesagt.

Ein heißer Tag im April

Es riecht schon verzweifelt nach Sommer.  Die Vögel kreischen ums Überleben. Brünstig streben die Blumen zur Sonne. Alles blüht, als gäb'...